PILGER MILLS

Von unzeitgemäßen Formen in der Gegenwart

Will Benedict, Rodrigo Hernández, Oliver Husain, Anahita Razmi, Eric Sidner

9. September bis 19. November 2017

Eröffnung: Freitag, 8. September 2017, 19 Uhr
Opening: Friday, September 8, 2017, 7 pm

Pressetext   Press release


Die Gruppenausstellung Pilger Mills beschäftigt sich mit einer ambivalenten zeitlichen Bewegung – derjenigen des Fortschritts und der Innovation, die immer wieder von Rückschritten und Entschleunigung unterbrochen wird. Die Gegenwart erscheint uns heute höchst instabil und von anachronistischen Verläufen durchsetzt. Wir leben mit der Erfahrung von verschiedenen denkbaren Zukünften, von denen einige, wie in jüngsten weltpolitischen Entwicklungen durch Nationalismus und Isolation, blockiert erscheinen. Gleichzeitig, je mehr Versprechen die Zukunft der Technik und der Vernetzung uns macht, umso mehr erschrecken wir über die Ungleichheiten und Stagnationen in unserem Zusammenleben sowie in unserem Handeln gegenüber der Natur.

Mit dem Begriff „Pilger Mills“ greift die Ausstellung auf das Themenfeld rund um das Vorwärts- und Rückwärtsschreiten in der Zeit zurück. In der Tanzliteratur beschreibt der Ausdruck „Pilgerschritt“ eine Choreografie, bei der nach mehreren Schritten vorwärts ein oder zwei Schritte zurück gemacht werden. Als Metapher einer beschwerlichen Fortbewegung taucht er in der Literaturgeschichte beispielsweise bei Cervantes’ „Don Quijote“ (1605) und dessen Kampf gegen Windmühlen auf. Unter umgekehrten Vorzeichen findet sich der Begriff ebenfalls im Geschichtsverständnis von Lenin, der im Mai 1904 sein Buch „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ in Genf veröffentlicht hat. Darüberhinaus wird damit auch ein technisches Verfahren bezeichnet, das beim Walzen von Stahlrohren in einer andauernden Vor- und Rückwärtsbewegung („Pilgerschrittverfahren“) zur Anwendung kommt.

Vor diesem Hintergrund fokussiert die Gruppenausstellung ein sinnbildliches „Bearbeiten“ von Geschichte sowie die unterschiedlichen zeitgenössischen Auffassungen von Geschichtlichkeit an sich. In ihren Arbeiten folgen die Künster/innen Will Benedict, Rodrigo Hernández, Oliver Husain, Anahita Razmi und Eric Sidner dabei nicht linearen Entwicklungen, sondern sie durchsetzen ihre Beobachtungen mit Zeitsprüngen, Zeitfaltungen und Neuinterpretationen der (Kunst-)Geschichte. Wie können heute neue Beschreibungen des zeitlichen Verlaufs unserer Gegenwart formuliert werden? Ausgehend von dieser Fragestellung untersucht Pilger Mills, wie man Schritte vorwärts und rückwärts nehmen kann, ohne ein utopisches Potential oder einen passiven Stillstand heraufzubeschwören, sondern vielmehr unzeitgemäße Formen als produktive Kräfte einzusetzen.


Blog-Eintrag / Review
Art Viewer (13.11.2017), artline> Magazin (06.11.2017)


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The group exhibition Pilger Mills is concerned with an ambivalent temporal movement – that of progress and innovation, which is repeatedly interrupted by regression or deceleration. Our present age seems to be highly unstable and becomes frequently interrupted by anachronistic processes. We are living with the experience of different thinkable futures, some of which, in light of recent global political developments, appear to be blocked by nationalism and isolation. At the same time, the more promises made to us by the future of technology and networking, the more frightened we become of the existing inequalities and stagnations within our social coexistence as well as within our behavior towards nature.

With the notion “Pilger Mills” this exhibition addresses a range of topics around the movement of forward and backward strides in time. In the literature of dance, the term “pilgrim steps” describes a choreography that follows several steps forward with one or two steps backwards. In literary history, the notion finds expression as an arduous venture in Cervantes’ “Don Quixote” (1605) with his fight against windmills. It likewise appears as a reverse sequence in the perception of history by Lenin, who published his book “One Step Forward, Two Steps Back” in Geneva in May 1904. Furthermore, the term indicates a technical process that applies the rolling of steel tubes through a steady forward and backward motion (“pilger process”).

Against this background the group exhibition focuses an allegorical “processing” of history as well as different contemporary understandings of historicity as such. In their works the artists Will Benedict, Rodrigo Hernández, Oliver Husain, Anahita Razmi and Eric Sidner do not follow linear developments, but allow their observations to intermingle with leaps and folds of time as well as with own interpretations of (art)history. How can the temporal course of our present time be rewritten today? Based on these questions, Pilger Mills also scrutinizes how one can step forwards and backwards without invoking a utopian potential or an inactive stagnation, but employing untimely forms as productive forces instead.

 

Die Ausstellung wird unterstützt von / The exhibition is supported by:

Speziellen Dank an / Special thanks to:
Galeria Madragoa, Lisbon
Berlinale Forum Expanded / Arsenal – Institut für Film und Videokunst